Niedriglohnsektor mit grünem Anstrich
Verbesserungsvorschläge
Um Mitarbeiter dauerhaft für das Unternehmen zu gewinnen, wird es nötig sein die Rahmenbedingungen zu verbessern, darunter Bezahlung und Kommunikation. Wertschätzung braucht es besonders auch für Auszubildende, die i.d.R. mit den meisten Stunden in die Firma eingebunden sind.
Arbeitsatmosphäre
Die Arbeitsatmosphäre ist angenehm, solange man nur wenige Stunden im Reformhaus arbeitet (als Zubrot oder zur Beschäftigung) und kaum Verantwortung übernimmt. Alle bemühen sich, stets gut gelaunt zu erscheinen.
Kommunikation
Sowohl die Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern als auch der Mitarbeiter (einschließlich Filialleiter) untereinander ist stark verbesserungswürdig. Zwischen Führungsebene und Mitarbeitern funktioniert sie in nur in eine Richtung, nämlich von oben nach unten. Die Mitarbeiter erhalten Order, die sie auszuführen haben, ihre eigenen Anliegen finden ohne mehrere Anläufe und Nachfragen kaum Gehör, auch bei sehr wichtigen Angelegenheiten wie Stunden- und Lohnabrechnung. Die Mitarbeiter untereinander kommunizieren sehr selektiv, an mich beispielsweise wurden Informationen oft erst sehr spät weitergegeben oder über meinen Kopf hinweg meine Angelegenheiten besprochen.
Kollegenzusammenhalt
Die Mitarbeiter, die schon lange im Reformhaus arbeiten, halten zusammen. Dies geht, wenn nötig, zu Lasten derer, die neu hinzukommen, besonders, wenn sie mit mehr Stunden eingeplant sind, z.B. Auszubildende. Das betrifft u.a. die Gestaltung von Arbeits- und Urlaubsplänen. Doch selbst unter den "Alteingesessenen" gibt es jene, die den Großteil der Arbeitslast bewältigen, und andere, die unliebsame Aufgaben an sie delegieren. Zusammenhalt bedeutet für die Mitarbeiter in erster Linie, den Laden trotz personalen Engpässen am Laufen zu halten. Für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen kommt ungeachtet des vielen Beklagens untereinander keine Solidarität zustande.
Work-Life-Balance
Wer zeitlich stärker eingebunden ist, füllt die Lücken derer, die weniger Stunden arbeiten, und hat entsprechend weniger Work-Life-Balance. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Arbeitspläne eher selten für einen ganzen Monat vorlagen, sondern nur für zwei Wochen oder gar wochenweise. Zudem wurden sie z.B. wegen krankheitsbedingten Ausfällen in der eigenen oder in anderen Filialen oftmals kurzfristig verändert bzw. gab es Anfragen hier oder dort einzuspringen. Man konnte jedoch angeben, wenn ein privater Termin geplant war, sodass dieser berücksichtigt werden würde, wenn möglich. Für die, die schon länger im Refomhaus arbeiteten, gab es mehr Spielräume, z.B. feste (freie) Tage.
Vorgesetztenverhalten
Das Vorgesetztenverhalten ist allen negativ aufgefallen. Unter den Mitarbeitern war die Überzeugung gängig, dass von den Vorgesetzten kaum oder keine Unterstützung zu erwarten ist und versucht werden sollte, Probleme erst einmal auf eigene Faust zu lösen. Entscheidungen von Seiten der teilweise völlig praxisfremden Vorgesetzten waren oft nicht nachvollziehbar, kritische Rückmeldungen dazu von Seiten der Mitarbeiter nicht erwünscht. Wertschätzung drückte sich lediglich in blumigen Dankesreden und Geschenketüten zu Weihnachten aus, die mit Ladenhütern und Firmengeschenken bestückt waren.
Interessante Aufgaben
Die Aufgaben im Reformhaus sind immer die gleichen (u.a. Bestellung und Verräumung von Ware, Dekoration, Kundenberatung, Kassieren) und sollen auch von allen erfüllt werden können. Jedoch kann allein aufgrund der Personalstruktur nicht jeder alles bewältigen, d.h. vieles bleibt liegen, zudem arbeiten manche mehr ab als andere oder sind für einen Bereich stärker oder weniger zuständig. Interessant ist die Möglichkeit Produktneuheiten im Bereich Bio-Lebensmittel, Nahrungsergänzung oder Naturkosmetik kennenzulernen und ggf. zu testen. Hierzu werden von den Firmen zahlreiche Schulungen mit Verkaufsargumenten angeboten.
Gleichberechtigung
Die meisten Mitarbeiter im Reformhaus sind Frauen. Hier mag ein Grund dafür liegen, dass diese von den Vorgesetzten (wenige, aber mehr Männer als Frauen) so wenig Wertschätzung für ihre Arbeit erfahren.
Umgang mit älteren Kollegen
Fast alle Mitarbeiter im Reformhaus sind älter, manche bereits über dem Rentenalter. Erfahrene Mitarbeiter sind unter Vorgesetzten und Mitarbeitern generell gern gesehen, da die Einarbeitung entfällt. Gefördert werden diese aber nicht. Sie werden auch nicht nach ihren Bedarfen unterstützt, wenn es um die Einführung technischer Neuerungen (z.B. Digitalisierung) geht. Meist sind sie nur für wenige Stunden eingeteilt.
Arbeitsbedingungen
Ich habe in unterschiedlichen Filialen gearbeitet, die alle mehr oder weniger marode waren. Die Ausstattung war größtenteils alt, behelfsmäßig, kaputt oder notgedrungen selbst organisiert. In zwei der Filialen war das WC nicht in den Laden integriert, sodass man bei notwendigem Toilettengang vorübergehend schließen musste, sofern man allein dort gearbeitet hat. In manchen Filialen wurde es über den Winter mangels effektiver Heizmöglichkeiten sehr kalt. Der Großteil der technischen Geräte ist veraltet und nicht gepflegt, es gibt aber auch technische Neuerungen, die jedoch unzureichend eingeführt wurden und die Arbeit durch etliche Fehler erschweren.
Umwelt-/Sozialbewusstsein
Es werden zahlreiche Produkte aus fairem Handel zum Verkauf angeboten. Weiter geht das Umwelt- und Sozialbewusstsein meines Erlebens nach nicht.
Gehalt/Sozialleistungen
Im Reformhaus zu arbeiten ist eine körperlich anstrengende Tätigkeit (Ware verräumen, viele Stunden lang stehen etc.) mit hohem Stresslevel (mehreren Alltagsaufgaben gleichzeitig nachkommen, strukturelle Mängel bei Ausstattung und Personal managen, den Forderungen von Vorgesetzten und Kunden genüge tun und stets freundlich bleiben). Dafür zahlt die Firma aktuell knapp über Mindestlohn, möchte aber fast nur Teilzeitstellen besetzen. Das muss sich ein Arbeitnehmer leisten können, sich eine besser bezahlte Stelle suchen oder zusätzlich Sozialleistungen beantragen. Verhandlungsversuche werden mit "Die Bezahlung im Reformhaus ist eben so" oder "Das ist der Einzelhandel" abgeschmettert. Filialleiter sollen ein wenig mehr erhalten, darüber wird nicht transparent kommuniziert. Sozialleistungen von Seiten der Firma sind mir nicht bekannt. Ein Mal musste ich meinen Lohn einfordern, da vergessen wurde ihn auszuzahlen.
Image
Das Image des Reformhauses ist erstaunlich gut. Das liegt sicherlich auch am Bemühen der Mitarbeiter um einen positiven öffentlichen Eindruck. Es gibt immer wieder Interessenten, die sich bewerben und zum Probearbeiten erscheinen. Oft kommen sie danach aber nicht wieder, weil sie das Aufgabenspektrum und die Arbeitslast unterschätzt haben oder mit dem gebotenen Niedriglohn nicht einverstanden sind.
Karriere/Weiterbildung
Mir sind Karriereperspektiven nur insofern bekannt, als dass es möglich ist eine Filiale zu leiten. Weiterbildung (meist kostenlose Schulungen von Firmen, deren Produkte verkauft werden) soll in der Freizeit stattfinden und wird mit einem Einkaufsgutschein belohnt.